20. Februar 2020
Die Studie der Stiftung Münch analysiert Capitationmodelle in verschiedenen Ländern und leitet daraus Implikationen für Deutschland ab.
Internationale Analysen und operative Erfahrungen zeigen, dass Capitationmodelle Sektorengrenzen überwinden, die Koordination der Patientenversorgung verbessern und zu einer spürbaren Kostenreduktion führen können. Zu diesem Ergebnis kommen die Autoren der von der Stiftung Münch beauftragten Studie „Prospektive regionale Gesundheitsbudgets: Internationale Erfahrungen und Implikationen für Deutschland“. Für die Studie wurden verschiedene Capitationmodelle in Spanien, der Schweiz, den USA und Peru untersucht. Zwar kann keines der Modelle als „die“ Ideallösung direkt auf Deutschland übertragen werden, dennoch zeichnen sich daraus Lehren ab, die als Vorlage zur Implementierung geeignet sind.
Als wesentliche Erfolgsfaktoren für die Etablierung von regionalen Gesundheitsbudgets in Deutschland sehen die Autoren eine schrittweise Einführung anhand von Pilotprojekten, die Steuerung über Qualität, die Einbeziehung regionaler Stakeholder, passende ökonomische Anreize, einen adäquaten Umgang mit ökonomischen Risiken und eine individuell ausgehandelte vertragliche Umsetzung. Von besonderer Bedeutung ist eine transparente Darstellung der Ziele und Ergebnisse von Regionalbudgets, die unabhängig evaluiert werden müssen. Zudem sei eine digitale Infrastruktur zur Koordination notwendig.
Boris Augurzky, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Münch: „Die Studie zeigt, dass Capitationmodelle eine gute Alternative sein können, um Gesundheitsversorgung effizienter zu gestalten, ohne dass dabei die Versorgungsqualität leidet. Damit das gelingt, ist Mut gefordert, neue Dinge auszuprobieren, statt nur bestehende Systeme in kleinen Schritten hier und da ein wenig zu verändern. Diesen Mut sehen wir in den untersuchten Ländern.“
Die Studie ist als Buch im medhochzwei-Verlag erschienen (Franz Benstetter, Michael Lauerer, Daniel Negele und Andreas Schmid: „Prospektive regionale Gesundheitsbudgets: Internationale Erfahrungen und Implikationen für Deutschland. Medhochzwei-Verlag, Heidelberg, ISBN 978-3-86216-618-3).
Aufgrund der demografischen Entwicklung wird die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen in den kommenden Jahren weiter steigen, während die personellen und finanziellen Ressourcen zurückgehen. Um eine Rationierung von Leistungen zu vermeiden und den Zugang zu einer qualitativ hochwertigen und finanziell leistbaren medizinischen Versorgung weiter zu erhalten, muss die Effizienz des Systems gesteigert werden. Doch im internationalen Vergleich liegen in Deutschland die Kosten je stationärem und je ambulanten Fall bereits vergleichsweise niedrig und eine weitere Steigerung der betrieblichen Effizienz stößt an ihre Grenzen.
Potenzial läge in einer sektorenübergreifenden Optimierung der Gesundheitsversorgung, die bisher in Deutschland kaum stattgefunden hat. Denn die bestehenden Vergütungssysteme sanktionieren faktisch sektorenübergreifende Angebote. Einen Ansatzpunkt, um dies zu ändern, stellen alternative Vergütungsmodelle wie prospektive regionale Gesundheitsbudgets dar, sogenannte Capitationmodelle. Es handelt sich um eine pauschalierte Vergütungsform, bei der ein Teil der Versicherungsrisiken auf die Leistungserbringer übergeht, die damit in einer Region eine Mitverantwortung übernehmen. Im Gegenzug erhalten sie eine größere Gestaltungsfreiheit und eine pauschale Vergütung pro versicherter Person.
Das „Valencia-Modell“ in Spanien zeigt, dass innerhalb weniger Jahre signifikante Kosteneinsparungen ohne Beeinträchtigung der Qualität realisiert wurden. Maßgeblich für den Erfolg waren unter anderem die starke Regionalisierung der Gesundheitsversorgung und die für die Einführung besonders wichtige politische Unterstützung, die nicht zuletzt aus Engpässen der Finanzierung der Gesundheitsversorgung resultierte.
In Peru gibt es seit 2014 Modellprojekte, deren Kosteneffekte noch nicht systematisch evaluiert sind. Es zeichnen sich jedoch, ähnlich zum Valencia-Modell, positive Qualitätseffekte, reduzierte Wartezeiten sowie eine optimierte Patientenzufriedenheit ab. Zum Erfolg trägt bei, dass die Regierung als Unterstützer der Modelle fungierte und Versicherten obligatorisch am Modell teilnehmen.
Die Schweiz war im Zuge der Managed Care-Bewegung zu Beginn der 1990er Jahre Vorreiter bei Capitationmodellen. Sie zeigten sich im Wettbewerb hinsichtlich von Effizienzgewinnen anderen Modellen gegenüber überlegen. Dennoch spielt heute echte Capitation in der Schweiz keine große Rolle mehr. Der Grund dafür liegt unter anderem darin, dass die Modelle für Leistungserbringer und Versicherte restriktiv wirkten und die Kompensationen für die Leistungserbringer durch die Erhöhung ihres Einkommens bzw. die Reduktion von Versicherungsprämien nicht ausreichten.
In den USA dagegen spielt Capitation wieder eine relevante Rolle. Hier stehen „Accountable-Care-Organizations“ (ACO) im Fokus. Im Gegensatz zu den spanischen und peruanischen Modellen wird eine schrittweise Transformation betrieben und nicht die gesamte Bevölkerung einer Region, sondern nur ausgewählte Versicherte dem Regionalmodell zugeordnet. Eine deutliche Stärke ist der transparente Umgang mit finanziellen und qualitativen Outcomes; für eine Erfolgsprognose ist es jedoch derzeit noch zu früh.
Für eine erfolgreiche Einführung von prospektiven regionalen Gesundheitsbudgets in Deutschland geben die Studienautoren folgende Empfehlungen: Ziel muss die Ausrichtung an der Versorgungsqualität sein. Gleichzeitig ist es für das Gelingen wichtig, dass sowohl für Leistungserbringer als auch für die Versicherten ein wirtschaftlicher Nutzen erkennbar ist. Die Einführung der Regionalbudgets kann schrittweise in geeigneten Modellregionen beginnen und muss dabei regionale Stakeholder einbeziehen. Wichtig ist ein adäquater Umgang mit ökonomischen Risiken. Auch eine Transparenz über Ziele und Ergebnisse muss hergestellt werden und eine unabhängige Evaluation erfolgen. Für die Projektplanung und -durchführung einer koordinierten Versorgung auf Capitation-Basis ist zudem eine zweckmäßige digitale Infrastruktur wichtig. Schließlich zeigen die Modelle in den anderen Ländern, dass ein politischer Wille eine wichtige Voraussetzung ist, um Capitationmodelle erfolgreich zu implementieren.
Augurzky betont: „Als zentrales Regulativ muss ein Wettbewerb zwischen Regionen etabliert werden, sodass die Versicherten bei schlechter Leistung einer Region stets Ausweichmöglichkeiten haben. Ziel muss sein, dass das Regionalbudget stationäre und ambulante Leistungen abdeckt, damit ein Anreiz zur Ambulantisierung stationärer Leistungen entsteht. Vermutlich ist es dazu am einfachsten, wie von den Autoren vorgeschlagen, insbesondere in ländlich geprägten Regionen mit einer überschaubaren Anzahl an Anbietern zu beginnen.“
Zu den Autoren:
Prof. Dr. Franz Benstetter ist Professor für Sozialversicherungen und Gesundheitsökonomie an der Technischen Hochschule Rosenheim. Davor war er von 2001 bis 2015 als Head of Managed Care und Head of Operational Services bei der Munich Re in der Erst- und Rückversicherung in internationalen Gesundheitsmärkten tätig. Zu seinen Forschungsthemen gehören u.a. die Konzeptionierung und Evaluation neuer Versorgungsformen, die Entwicklung von Bezahlungs- und Finanzierungssystemen sowie die digitale Transformation in Gesundheitsmärkten. Er ist in verschiedenen Funktionen im deutschen und internationalen Gesundheitswesen aktiv.
Dr. Michael Lauerer ist promovierter Gesundheitsökonom und Diplom-Sozialwirt. Seit 2011 gehört er dem Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften der Universität Bayreuth an. Dort ist er Akademischer Rat. Seit 2017 ist er zudem Wissenschaftlicher Geschäftsführer der GWS – Gesundheit Wissenschaft Strategie GmbH. Zu seinen Forschungs- und Arbeitsschwerpunkten zählen die Ressourcenallokation und Priorisierung in der Medizin, qualitative und quantitative Sozialforschung im Kontext der Gesundheitsversorgung, Präferenzstudien sowie komparative Gesundheitssystemanalysen.
Daniel Negele, M.Sc., ist Gesundheitsökonom und Sozialwirt. Seit 2018 promoviert er als externer Doktorand am Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre III der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth. Daneben verfügt er über mehrjährige berufliche Erfahrungen zu strategischen Fragestellungen der ambulanten Versorgung sowie in der gesetzlichen Krankenversicherung. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind der Qualitätswettbewerb im Gesundheitssystem, qualitätsorientierte Bezahlungsschemata und deren Anreizwirkungen sowie komparative Gesundheitssystemanalysen.
PD Dr. Andreas Schmid ist Projektleiter bei der Oberender AG. Er ist ferner als Privatdozent mit der Venia legendi in Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement an der Universität Bayreuth tätig, an welcher er von 2013 bis 2019 Inhaber der Juniorprofessur Gesundheitsmanagement war. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der Analyse und Gestaltung von Versorgungsstrukturen sowie zugehörigen Vergütungssystemen. International gilt sein besonderes Interesse dem Gesundheitssystem der USA.
Die Stiftung Münch wurde 2014 von Eugen Münch ins Leben gerufen. Das Stiftungsziel ist es, trotz einer alternden Gesellschaft weiterhin allen Menschen den Zugang zu nicht rationierter Medizin zu ermöglichen. Als Grundlage dient das von Eugen Münch entwickelte Konzept der Netzwerkmedizin. Die Stiftung unterstützt Wissenschaft, Forschung und praxisnahe Arbeiten in der Gesundheitswirtschaft und fördert den nationalen und internationalen Austausch. Sie arbeitet unabhängig und stellt ihr Wissen öffentlich zur Verfügung. Den Vorstand bilden Prof. Dr. Boris Augurzky (Vorsitz), Eugen Münch (stellv. Vorsitz) und Prof. Dr. med. Bernd Griewing; die Geschäftsführung liegt bei Dr. Johannes Gruber (Geschäftsführer, Syndikus) und Annette Kennel (Operative Geschäftsführerin).